Alarmierende Studie

Deutschland, Land der Schulabsteiger

Von Christian Füller

Gibt es ein Bundesland mit zugleich guten und gerechten Schulen? Leider nein, zeigt eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung. Wer vom deutschen Bildungssystem einmal ausgesiebt wird, schafft es fast nie wieder zurück. Und viel zu viele lernen viel zu wenig.

Was Bildungsforscher Wilfried Bos an Grausamkeiten der deutschen Schulen zusammengetragen hat, lässt sich am besten mit einem Wort beschreiben: skandalös. Der renommierte Dortmunder Wissenschaftler hat erstmals dezidiert Leistung und Gerechtigkeit deutscher Schulen gemeinsam untersucht und nach Bundesländern gegliedert zusammengefasst. Sein desillusionierendes Ergebnis: "Es gibt kein einziges Bundesland, das überall ein Plus bekommt. Das deutsche Schulsystem ist derzeit nicht in der Lage, die beiden wichtigsten Ziele von Bildung zu erfüllen: Exzellenz und gleiche Chancen auf Teilhabe."

Bos und sein Jenaer Kollege Nils Berkemeyer haben für den von der Bertelsmann-Stiftung beauftragten "Chancenspiegel", der SPIEGEL ONLINE vorliegt, auf alle relevanten Daten zurückgegriffen: Informationen des Berliner Qualitätsinstituts IQB, aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes und Ergebnisse der Grundschulstudie Iglu und der OECD-Studie Pisa.

Ungerechtigkeiten und Leistungslücken quer durch alle Länder

Um Gerechtigkeit und Leistung des Schulsystems evaluieren zu können, verwendeten Bos und Berkemeyer für den neuen "Chancenspiegel" vier Indikatoren: Integrationskraft und Durchlässigkeit, um die schulische Fairness abzubilden. Leistung maßen die Forscher durch das Erreichen von Kompetenzen (etwa im Lesen) und Zertifikaten (also erreichten Bildungsabschlüssen). Sieht man sich die vielen Tabellen und Grafiken genauer an, die dabei herausgekommen sind, so entsteht - erneut - ein Puzzle der Ungerechtigkeit und der Leistungslücken, und zwar quer durch alle Bundesländer:
  • Hessen, Brandenburg, Hamburg und Bremen benachteiligen Kinder aus Familien mit wenigen Büchern - mit der Maßeinheit Bücher pro Haushalt bestimmen Bildungsforscher die sogenannten Bildungsnahen oder eben Bildungsfernen. In den genannten Ländern bleiben bildungsferne Schüler über zwei Lernjahre hinter den Kindern aus Familien mit über 100 Büchern zurück.

  • Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein bevorzugen besonders stark die Kinder der sogenannten "oberen Dienstklasse". Das bedeutet: Kinder aus akademisch gebildetem, reichem Elternhaus bekommen dort, trotz gleicher Leistung, sechsmal so große Chancen aufs Gymnasium wie Arbeiterkinder.

  • Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen lassen nur noch 37 von 100 Hauptschülern in die duale Ausbildung, also in einen Lehrberuf plus Berufsschule. Das duale Ausbildungswesen war früher das Reservat für Schüler aus der niedrigsten allgemeinen Schulform.

  • Das Saarland, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Bayern verriegeln ihre Gymnasien regelrecht: Nur 24 von 100 Jugendlichen dürfen dort auf die begehrte Schulform mit Aussicht aufs Abitur.

Selbst in Sachsen, dem informellen Sieger der neuen Studie, kommen auf einen Schulaufsteiger elf Schüler, die aus dem Gymnasium in eine niedrigere Schulform herabgestuft werden. In Niedersachsen sind es 12, in Berlin gar 14. Am schlimmsten wirkt die sogenannte Förderschule, die früher Sonderschule hieß: Wer als körperlich Behinderter oder Lernbehinderter dort hineingerät, kommt nicht mehr raus, zeigt die Studie. Die Förderschule fördert nicht, sie ist eine Falle.

Ausgerechnet die Konferenz der Kultusminister (KMK) verweigerte die Herausgabe bestimmter Zahlen an die Studien-Autoren. "Ländervergleiche sind Aufgabe der KMK und nicht die unabhängiger Institute", begründete die Bildungsministerriege ihre Weigerung gegenüber der Bertelsmann-Stiftung. Es war nicht das erste Mal: Im Januar hatte sich der niederländische Bildungsforscher Jaap Dronkers bitter beklagt, weil ihm die KMK bei Androhung einer Geldstrafe untersagt hatte, bundeslandspezifische Daten in einem Pisa-Ländervergleich zu veröffentlichen.

Förderschulen fördern nicht - sie sind eine Falle

Die Kultusminister haben offenbar ihre Gründe, bei Zahlen zur Gerechtigkeit des deutschen Schulwesens zu mauern. Denn die neuen Befunde sind ein weiteres Alarmsignal nach Pisa: "Schulsysteme in Deutschland sind nach oben zu wenig durchlässig: Es gibt mehr Abstiege als Aufstiege" - so beschreiben die Schulforscher ein zentrales Wesensmerkmal der Merkelschen "Bildungsrepublik" im Jahr 2012.

Die Idee, sich mit der Gerechtigkeit des Schulsystems auseinanderzusetzen, hatte Wilfried Bos schon länger. Er wies 2006 in der Grundschulstudie Iglu, eine Art Pisa-Studie für Viertklässler, nach, wie ungerecht der Übergang von der Grundschule auf weiterbildende Schulen ist. "Es geht darum zu gewährleisten, dass niemand etwa durch seine Herkunft benachteiligt wird", sagte Bos damals und macht es auch ganz konkret: "Wir dürfen es nicht erlauben, in den Metropolen so viele Menschen auszuschließen und Kinder zurückzulassen." Das war sein Fingerzeig auf die verheerenden Ergebnisse der Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg.

Das Fazit der Forscher ist ernüchternd: "Die deutschen Schulsysteme bieten Kindern und Jugendlichen sehr unterschiedliche Chancen, ihre Kompetenzen zu entwickeln." Das ist ein Hinweis auf das föderale Tohuwabohu, das seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 entstanden ist. Anstatt ihre Schulsysteme zu vereinfachen, ist die Zahl der Schularten in den vergangenen Jahren dramatisch angestiegen. Bos und seine Kollegen fanden zum Beispiel allein 70 verschiedene Methoden der Leseförderung.

Dräger: "Besser spät als nie begreifen"

Der neuerliche Weckruf in Sachen Schule kommt nun von der Bertelsmann-Stiftung. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung für Bildungsfragen, hatte die Studie beauftragt. "Wir sind der Meinung, dass der Staat dafür zuständig ist, Chancengerechtigkeit in den Schulen herzustellen", sagte Dräger, "aber das tut er bislang nicht konsequent." Der "Chancenspiegel" soll daher regelmäßig Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulen beurteilen.

Beobachter begrüßten es, dass endlich explizit die Gerechtigkeitsfrage in einer Schulstudie aufgeworfen wird. "Ich wünsche dem Gutachten viele Leser. Es illustriert mit neuen Schaubildern, dass viele Schulangebote und -abschlüsse hierzulande völlig ungerecht verteilt sind", sagte der Vorsitzende des Bayerischen Lehrerverbandes, Klaus Wenzel. Ihn ärgere, dass nun die x-te Studie zeigt, wie ungerecht das deutsche Schulsystem ist: "Wir haben keinen Mangel an Studien. Was wir brauchen, sind Politiker, die am Montag das tun, was sie in Sonntagsreden in Aussicht stellen."

Dräger kritisierte die mangelnde Bereitschaft der Politik zum Dialog. "Die Bereitschaft der Kultusministerkonferenz, Chancengerechtigkeit transparent zu diskutieren, tendiert gegen minus 100", sagte der Stiftungsvorstand, der selbst als Hamburger Wissenschaftssenator sieben Jahre lang Teil der Konferenz war. Wieso er nicht schon damals die Gerechtigkeitsfrage aufgeworfen habe, wurde der Bertelsmann-Vorstand gefragt. Drägers Antwort: "Ja, es war ein Versäumnis. Aber besser spät als nie begreifen, dass es um Leistungsfähigkeit und Chancengerechtigkeit geht."

Hinweis der Redaktion: In einer ersten Version dieses Artikels wurde Jörg Dräger mit der Aussage zitiert, seine Bereitschaft mit der KMK über Chancengerechtigkeit zu diskutieren, tendiere "gegen minus 100". Tatsächlich ist Dräger zum Dialog bereit, er kritisiert aber die mangelnde Gesprächsbereitschaft der Politik. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.


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